Durchbruch in Brüssel - pünktlich vor Jahresende konnte die Groß-Baustelle EU-Budget geschlossen werden: Die milliardenschweren Corona-Hilfen für die EU können fließen und auch der Weg für den langjährigen EU-Haushalt ist frei. Doch zu welchem Preis?
Einigung über EU-Haushalt
„Es ist ein guter Tag für Europa“, so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Abschluss des Europäischen Rates am Freitag, 11.12.2020 in Brüssel.
Den EU-Staats- und Regierungschefs war es zuvor gelungen, unter anderem das Finanzpaket im Volumen von über 1,8 Billionen Euro unter Dach und Fach bringen und den Konflikt mit Polen und Ungarn um den europäischen Haushalt und den Corona-Hilfsfonds vorerst beizulegen.
Bisheriges Problem
Das Problem bisher: Ungarn und Polen hatten die mit dem Europäischen Parlament ausgehandelten Finanzpakete mit einem Veto blockiert, weil sie eine Verknüpfung der Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien ablehnten.
So wollten die beiden Ländern die Möglichkeit verhindern, dass bei künftigen Verstößen gegen den Rechtsstaat, also wenn ein Land beispielsweise die Unabhängigkeit der Justiz einschränkt, als Folge weniger Geld aus Brüssel fließen wird.
Polen und Ungarn, zwei nationalkonservativ regierte Länder, stehen bereits seit Jahren wegen ihres Umgangs mit Wissenschafts-, Religions- und Versammlungsfreiheit, Justiz und Medien in der Kritik, weshalb gegen beide EU-Strafverfahren laufen.
Kompromiss aus Deutschland
Ein Kompromissvorschlag aus Deutschland konnte die Blockierer letztendlich überzeugen.
Neben einer großen Anzahl von zusätzlichen Erklärungen, sieht der Kompromiss vor, dass die EU-Kommission den Rechtsstaatsmechanismus nicht anwenden darf, wenn einer der EU-Mitgliedsstaaten dagegen Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einreicht. Das Einreichen einer solchen Klage wurde von Polen und Ungarn tatsächlich direkt angekündigt. "Natürlich werden wir das tun, denn wir glauben, dass überprüft werden muss, ob dies im Einklang mit den Verträgen ist", so der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki. Die Prüfung vor dem EuGH bedeutet eine zeitliche Verzögerung und kann bis zu zwei Jahren dauern.
Zudem gewährleistet der Kompromiss, dass die Klausel nur die Prüfung der Rechtsstaatlichkeit bei der Nutzung von EU-Geld vorsieht. Für andere Streitigkeiten, wie etwa über die Justizpolitik eines EU-Mitglieds, wird weiterhin das sogenannte Artikel-7-Verfahren greifen, das die EU-Kommission bei vermuteten Verstößen gegen Grundprinzipien der EU einleiten kann.
Polen und Ungarn zufrieden
Offenbar aufgrund des Zeitgewinns hatten sich sowohl Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán als auch Polens Vizeregierungschef Jaroslaw Kaczynski, bereits vor Beginn des Gipfels zufrieden mit dem deutschen Vorschlag gezeigt und den Kompromiss als Erfolg verbucht. Die Einigung bejubelte Viktor Orbán in einem Video mit den Worten: „Wir können nun den Champagner kalt stellen“.
Befürworter des Rechtsstaatsmechanismus auf der anderen Seite freuten sich ihrerseits, dass das Instrument nun tatsächlich eingeführt wird.
Notwendiger Kompromiss - aber politischer Fehler?
Doch die Freude ist nicht allgegenwärtig: EU-Parlamentarier sind verärgert über zu große Zugeständnisse an Polen und Ungarn. Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus sollte ein effektives Mittel im Kampf gegen die antidemokratischen Tendenzen in der polnischen als auch ungarischen Regierung werden - nun kann das Instrument vorerst nicht eingesetzt werden. Dabei scheint der Entzug von EU-Geldern die womöglich einzig erfolgsversprechende Maßnahme zu sein, denn beide Länder wurden schon mehrfach vom EuGH wegen gravierender Rechtsstaatsmängel verurteilt und hielten trotzdem an ihren politischen Kursen fest. Wie viel Zeit wird vergehen, bis der EuGH eine Entscheidung getroffen hat? Nach dem Einreichen der sogenannten Nichtigkeitsklage, welche von Ungarn und Polen bis Mitte Februar vorgelegt werden muss, nimmt sich der EuGH normalerweise ein bis anderthalb Jahre Zeit für seine Entscheidung. Somit hätte Orbán bis vor der nächsten ungarischen Parlamentswahl, die Mitte 2022 stattfinden soll, nichts mehr zu befürchten. Doch die für Rechtsstaatlichkeit verantwortliche Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová rechnet mit einer schnelleren Entscheidung des EuGH: „Meiner Einschätzung nach reden wir eher über Monate als über Jahre.“. Die Frage bleibt, ob die EU hätte härter durchgreifen sollen. So hätte sie Ungarn und Polen beispielsweise mit der Wegnahme des Stimmrechts drohen können, um sich so klar gegen den Abbau der Demokratie in den beiden Ländern zu positionieren.